Für die einen ist es ein Mythos, für die anderen ein Programmsatz: Mit der bewussten Beschränkung der von Familienmitgliedern im Familienunternehmen zu übernehmenden Rollen auf „ganz unten“ und „ganz oben“ sollen vielfältige Konfliktpotentiale ausgeschaltet werden. Und tatsächlich spricht einiges dafür:
Familienmitglieder im Mittelmanagement können verunsichernd auf das Hierarchiegefüge wirken, und zwar sowohl nach oben als auch nach unten. Ihre Chefs müssen die Balance finden zwischen ihrer Autorität gegenüber ihren Mitarbeitenden und dem Wissen darum, dass das ihnen unterstellte Familienmitglied sie vermutlich einmal hierarchisch überholen wird und auch schon aktuell ungleich mehr als andere das Ohr der Chef-Chefs und der Eigentümer hat. Mitarbeiter des Familienmitglieds pflegen gegenüber dem prospektiven Firmenchef vielleicht auch eine andere Diskussions-, Streit- und Fehlerkultur als sie es gegenüber anderen Chefs täten. Beide Effekte können natürlich kulturell und vor allem durch das persönliche Verhalten des Familienmitglieds deutlich eingeschränkt werden. Trotzdem werden sich viele Menschen nicht von ihrem geübten Verhalten gegenüber Autoritäten – und seien es auch nur prospektive – abhalten lassen.
Gleichzeitig ist die Situation auch für das betroffene Familienmitglied nicht einfach: Es gehört viel menschliche Reife dazu, in einem Umfeld von Erwartungen, die über diejenigen der ausgeübten Rolle weit hinausgehen, genau in dieser Rolle zu bleiben. Das wäre aus Hygienegründen hinsichtlich der Hierarchie das Erstrebenswerte. Es würde aber vermutlich das unmittelbare Umfeld irgendwie auch etwas enttäuschen. Würde das Familienmitglied seine hierarchische Rolle ausdehnen, würde dies aber wahrscheinlich zu Missmut bei seinen Vorgesetzten und Kollegen führen. Weil es so schwierig ist, hier die richtige Justage zu finden, hat der Mythos durchaus seine Berechtigung insofern, als er eine Beschäftigung von Familienmitgliedern im mittleren Management des Familienunternehmens ausschließt.
Wie sollen dann aber Familienmitglieder jenseits des Praktikantenstatus an die operative Verantwortung für das Familienunternehmen herangeführt werden? Natürlich gibt es auch andere Unternehmen, in denen man Erfahrungen sammeln kann. Sie werden auch nicht nur deshalb von einer Einstellung des Nachfolgers absehen, weil dieser ersichtlich nicht auf ewig im Unternehmen bleiben wird. Das kann man nämlich von anderen Bewerbern auch nicht erwarten. Zurückhaltend werden eher unmittelbare Konkurrenten des Familienunternehmens sein, nämlich aus Wettbewerbsgründen. Aber das Sammeln von Führungs- und Konzernerfahrungen einerseits und von Branchenerfahrungen andererseits lässt sich durchaus auch trennen. Letztere können auch im eigenen Familienunternehmen erworben werden, wenn Erfahrung und Status des Nachfolgers es bereits rechtfertigen, dort eine Funktion zu bekleiden, die hierarchisch zu der späteren Rolle passt. Das kann die Übernahme der Verantwortung für ein Projekt auf oder unmittelbar unterhalb der Geschäftsführungsebene sein. Es kann aber auch die Übernahme von Aufgaben, die weniger Branchenkenntnisse erfordern, innerhalb der Geschäftsführung sein. Und ob das Kollegialorgan Geschäftsführung tatsächlich nur funktioniert, wenn das Familienmitglied den familienexternen Geschäftsführern als CEO vorgesetzt ist, ist eher eine Persönlichkeits- als eine Grundsatzfrage.
So überlegenswert der Mythos hinsichtlich der Übernahme operativer Verantwortung eines Familienmitglieds im Familienunternehmen erscheint, so fragwürdig ist er in seiner darüber hinausgehenden Allgemeinheit. Denn es gibt auch Rollen jenseits der operativen Tätigkeit im Familienunternehmen: So können Familienmitglieder als Aufsichtsrat oder Beirat des operativen Unternehmens und als Geschäftsführer oder Beiratsmitglied entweder der Familienholding oder einer Assetklassengesellschaft (z.B. Immobilien, Wertpapiere bis hin zu philanthropischen Aktivitäten) Verantwortung übernehmen und den Familieneinfluss geltend machen. Nicht zuletzt kann man auch als „bloßer“ Gesellschafter informell eine wichtige Rolle in der Familie und als intellektueller Herausforderer des Managements spielen.
Für diese verschiedenen Rollen bedarf es auch jeweils unterschiedlicher Kenntnisse und Fähigkeiten. Während die vom bloßen Gesellschafter zu erwartende Kompetenz immer auf den Zusammenhalt der Familie und die dafür erforderlichen Kommunikations- und Identifikationseigenschaften ausgerichtet ist, hängen die erforderlichen unternehmens-, branchen- und wirtschaftsspezifischen Kenntnisse davon ab, inwieweit die Familiengesellschafter in operative Entscheidungen des Unternehmens eingebunden sind. Wenn wichtige strategische Entscheidungen oder die Auswahl des Top-Managements durch die Gesellschafterversammlung abgesegnet werden müssen, sollten die Gesellschafter die betriebswirtschaftlichen, strategischen und personellen Kompetenzen haben, die zur Beurteilung dieser Fragen benötigt werden.
Sollen Familienmitglieder Funktionen in Aufsichtsorganen übernehmen, ist ein noch tiefer gehender betriebswirtschaftlicher Sachverstand erforderlich, der allemal das Verständnis von Jahresabschlüssen, aber auch eingehendere Kenntnisse der Tätigkeit und des Umfelds des Mandatsunternehmens umfasst. Neben der Fähigkeit, Entscheidungsvorlagen beurteilen zu können, ist hier auch eine Fähigkeit zur Diskussion auf Augenhöhe mit der Geschäftsführung hinsichtlich strategischer Fragen erforderlich. Wenn das Organmitglied darüber hinaus seine juristische Verantwortung kennt und ggf. noch eine Spezialkompetenz für das Gremium abdeckt, schadet das auch nicht. Der Familie gegenüber muss es deren Vertrauen in die kompetente Wahrnehmung ihrer Vermögensinteressen rechtfertigen. Praktische Erfahrungen lassen sich hier sehr gut über einen vorübergehenden Gaststatus in dem Gremium sammeln.
Am höchsten sind die Anforderungen natürlich, wenn eine Geschäftsführungsfunktion im Familienunternehmen übernommen werden soll. Hier sind in fachlicher Hinsicht neben dem vorher Erwähnten Erfahrungen in persönlicher und operativer Führung sowie eine genaue Branchenkenntnis erforderlich. In persönlicher Hinsicht kommt es u.a. auf Führungsstärke, Strategiekompetenz, Kommunikationsfähigkeit sowie ein breites Netzwerk an. Soweit sinnvoll, sollte die Familie insbesondere für die allgemeineren und familienspezifischen Themen entsprechende Weiterbildungsangebote zur Verfügung stellen (siehe dazu schon bei Mythos #02).
All diese Fragen sollten in einem inhaberstrategischen Prozess mit einem möglichst großen Teil der Familie diskutiert werden. Das gilt in noch stärkerem Maße für die Frage, wie sichergestellt wird, dass Kompetenzen und Potential für die vom Familienmitglied angestrebte Position im Einzelfall vorliegen. Das festzustellen ist insofern einfacher als in „normalen“ Einstellungsprozessen, als die Person seit vielen Jahren bekannt ist. Daraus entstehen aber auch zusätzliche Schwierigkeiten: Die Nichte, deren Kindergeschichten jedem noch gut in Erinnerung sind, soll jetzt plötzlich Verantwortung für das Familienvermögen übernehmen? Will man dem Sohn, auch wenn er sich mit der Ausbildung eher schwergetan hat, jetzt mit einer Ablehnung vor den Kopf stoßen? Diese und andere typische Konstellationen zeigen einerseits, dass es ganz wichtig ist, auf Familienebene einen möglichst objektivierenden Prozess für die Eignungsprüfung in Nachfolgefragen zu vereinbaren. Andererseits ahnt man aber auch, dass eine Ablehnung der Nachfolge im Rahmen des Familiengefüges wahrscheinlich noch viel schlimmer ist als in „normalen“ Bewerbungssituationen. Denn sie beschränkt sich nicht auf die fachlich-persönliche Zurückweisung, sondern der Zurückgewiesene muss anschließend weiter mit der Familie, die ihn zurückgewiesen hat, leben.
Liegt die Lösung dieses Dilemmas darin, Familienmitglieder vielleicht sogar nur als Praktikanten zu akzeptieren? Ganz sicher nicht! Die Aufgabe besteht vielmehr darin, unterschiedliche Positionen für unterschiedliche Befähigungen und Interessengebiete vorzuhalten. Für jede Position sollte definiert werden, welche Kenntnisse erforderlich und wie sie nachzuweisen sind. Je mehr man dies an familienextern organisierten Kursen, Prüfungen und Qualifikationen orientiert, desto geringer ist das familieninterne Konfliktpotential. Auch für die praktische Erfahrung können objektive Vorgaben gemacht werden und sei es, dass eine regelmäßige Teilnahme des Bewerbers an Beirats- oder Geschäftsführungssitzungen und vielleicht auch die Übernahme bestimmter Teilaufgaben über einen bestimmten Zeitraum verlangt werden. Es sollte dann eine Stelle (z.B. der Beirat der Holding) definiert werden, die das Vorliegen dieser formalen Voraussetzungen prüft. Das hilft, um das Verfahren zu professionalisieren und stillschweigende oder ausdrückliche Erwartungen dahingehend, hinsichtlich einzelner Defizite ein Auge zuzudrücken, zurückzudrängen. Mehr, also insbesondere eine qualitative Prüfung des Bewerbers in fachlicher oder persönlicher Hinsicht, sollte man dem Gremium aber besser nicht zumuten. Gleichgültig, inwieweit es familienintern oder familienextern besetzt ist, geriete es hierbei zwischen die familiären Konfliktlinien, während doch eigentlich seine Aufgabe sein sollte, diese zu glätten. Intelligenter erscheint es, durch sinnvolle, aber nicht zu niedrige Qualifikationshürden sicherzustellen, dass nur diejenigen Familienmitglieder letztlich sich für die Übernahme eines Amtes bewerben, die genügend Interesse und Biss hatten, die davor stehenden Hürden zu überwinden. Die Höhe dieser Hürden muss natürlich im Hinblick auf die Schwierigkeit und Wichtigkeit der angestrebten Position angemessen sein.
Alternativ könnte man auch daran denken, eine Person oder ein Gremium zu installieren, dass sich ausschließlich mit der Nachfolgefrage befasst und dabei auch die Aufgabe übernimmt, eine qualitative Überprüfung von Kandidaten vorzunehmen. Im Unterschied zum oben angesprochenen Beirat könnte ein solches Gremium als externe Autorität wirken, für die es auch weniger tragisch wäre, wenn Teile der Familie sich von seiner Entscheidung beleidigt fühlten. Das hätte aber zwei entscheidende Nachteile: Zum einen müsste ein solches Gremium nicht nur die Person des Bewerbers sehr gut einschätzen können, sondern auch die Position, die er anstrebt, und das Unternehmen, in dem er tätig sein soll. Das ist von außen äußerst schwierig, weshalb kein Unternehmen ohne Not die Entscheidung über eine Einstellung komplett nach außen delegieren würde. Zum anderen würde dann der Bewerber eben doch wegen weicher Faktoren abgewiesen, was zu den oben erwähnten langfristigen Störungen der Familienharmonie führen kann. Eine Zurückweisung wegen des Fehlens irgendeiner formalen Voraussetzung, die auch noch nachträglich geschaffen werden kann, ist demgegenüber viel weniger einschneidend.
Insgesamt sprechen wir hier von einem ausgesprochen heiklen, weil nachhaltig konfliktträchtigem Thema, das in diesem Artikelformat nur angetippt werden kann. Jede Familie sollte sich hierüber ausführlich Gedanken machen, lange bevor ein kritischer Nachfolgefall ansteht. Dabei ist dann auch die mögliche Problematik in den Blick zu nehmen, dass Nachfolger auch immer Vorgänger haben, denen manchmal das Loslassen schwer fällt. Und auch im günstigen Fall ist ihr Erfahrungsvorsprung für den Nachfolger immer präsent und geeignet, zusätzlichen Erwartungsdruck aufzubauen.
wenn man ihn auf die operative Mitwirkung im Familienunternehmen bezieht. Da es aber noch ganz viele andere Mitwirkungsmöglichkeiten gibt, ist er zu eng.